Vor einiger Zeit, im Zoo Wuppertal.
An einem strahlenden Junitag zog ich mit meiner "Black Beauty" 'mal wieder in den Zoo um mich zum einen an der bunten Tierwelt zu erfreuen und zum anderen einmal wieder das Auslösegeräusch der X-700 zu hören. Also gesagt, getan, die Kamera eingepackt, den Autowinder, der Rokkor 70-210/4.0 und für alle Fälle das 50/1.4 und den Autoflash 360PX. Zwei Filme in die Tasche und los geht’s.
Angekommen, geparkt, die Fototasche gegriffen und ab Richtung Eingang. Dann ein paar Schritte und ich stehe im prachtvollen Eingangsbereich und staune über die Farben der prächtigen Flora, die sich mir vor den Füßen ausbreitet. Immer wieder toll das zu sehen.
Ich sitze erst einmal in Ruhe auf der Parkbank und montiere die Kamera. Motor unter das Gehäuse und das Telezoom nach vorne. Dann noch die Gegenlichtblende und ich spüre das Gewicht des kalten, schweren Metalls der Kamera. Ist ja schon 'was anderes als der moderne Plastikkram von heute. Und auch ein imposanter Anblick in der vollen Aufrüstung.
Nebenbei bemerke ich schmunzelnd die Familie, die an mir vorbei marschiert. Vater, Mutter, Tochter und Sohn. Für einen Sonntag Mittag ein richtig idyllischer Anblick und ich bemerke die kurze Handbewegung des Vaters, der mit gekonnter Eleganz die digitale Kompaktkamera aus der Hemdtasche zieht und in Bereitschaft bringt. Ein kurzer Tastendruck und das Ding lebt. Doch Moment 'mal, das war alles? Einfach nur ein kurzer Tastendruck? Wo ist denn da die Zeit der Ruhe, des Ansetzen des Objektives, das Montieren des Winders und der besinnliche Moment des Filmeinlegens? Ach wie traurig. Und das soll etwa Fortschritt sein? Wie unromantisch.
Ich nehme die Filmdose aus der Tasche und öffne sie. Danach 'mal kurz am herausragenden Ende des Films schnuppern. Oh ja, das durftet wirklich herrlich. Es soll ja Menschen geben, die auf teures Parfum stehen. Ich jedoch stehe auf Zelluloid, den Geruch, der aus der Filmdose meine Nase erreicht. Und dann das zärtliche Beschnuppern des frischen Filmes. Das lässt mich erst einmal den Oberkörper einen Moment zurück lehnen, tief Luft holen und einen Moment befriedigt in die Sonnen blinzeln. Ich fühle mich so herrlich analog …
...mit meinem 36-fachen MultiAnalogBildSensor in chemischer Vergütung.
Nun noch den Film einlegen, Klappe zu und los geht’s zur ersten Attraktion den Seelöwen, die für mich immer die erste Etappe des Zoobesuchs sind und an die ich mich nun mit freudiger Erwartung einiger guter Fotos anpirsche.
Nun stehe ich also am Bassin, der durch eine etwa einen Meter hohe Mauer abgegrenzt ist und der rund herum von Besuchern mit Ihren tobenden Kindern umlagert ist. Ich suche mir einen guten Platz in der Mitte und lasse erst einmal in Ruhe alles auf mich wirken. Wie ein Raubtier beobachte ich die Bewegungen meiner Beute und verfolge jeden Seelöwen mit dem fotografischen Jagdinstinkt. Ich merke mir die Stellen, zu denen sie häufig dahin gleiten. Ich studiere den Bewegungsablauf beim Schwimmen und überlege, wann ich den besten Schuss auf die effektivste Weise setze. Nach einem Augenblick der Lageeinschätzung nehme ich dann die Kamera von der linken Schulter, stütze den Ellenbogen auf die Mauer und nehme die erste Beute ins Visier als …
… ich ein zaghaftes Ziehen an meinem rechten Jackenärmel spüre. Langsam nehme ich die Kamera vom Auge und blicke zur Seite. Wegen meiner gebeugten Haltung zum Aufstützen der Jagdwaffe erspähe ich sofort das Kindergesicht eines kleinen Mädchens neben mir und erinnere mich sofort an die Familie am Eingang des Zoos während ich die Waffe lud und entsicherte. Ach ja, der Vater mit der langweiligen und emotionslosen DigiCam.
"Hallo," sagt die Kleine und schaut mich mit großen braunen Augen an. Die langen blonden Haare wirft sie nach hinten aus dem Gesicht und fragt "was ist das, was Du da hast?" Ich schaue nach links und sehe eine für mich ganz normale Kamera an. Doch beim näheren Hinsehen erkenne ich, dass eine schwarze X-700 mit aufgesetztem Winder, einem 70-210 Telezoom mit Gegenlichtblende für ein ungefähr fünfjähriges Kind durchaus ein abstrakter Gegenstand sein kann. Fast schon tauglich für den Nahkampf. Ein wissendes Lächeln fährt über mein Gesicht.
"Das ist ein Fotoapparat" entgegne ich und halte ihr die Kamera hin, die sie mit einem fast schon ehrfurchtsvollen Blick mustert. "Warum drehst Du immer da vorne dran?" ist die nächste Frage des Mädchens. "Das mache ich damit das Bild scharf wird" entgegne ich ihr worauf sie altklug bemerkt, dass das bei dem Fotoapparat des Vaters von selbst geht. Schmunzelnd sehe ich, dass der Vater verzweifelt versucht im Gegenlicht und bei Spiegelungen im Wasser den Autofokus unter Kontrolle zu bringen, der hartnäckig zoomt und zoomt und zoomt aber die Kamera nicht auslösen lässt.
"Ein richtiger Fotoapparat?" fragt sie und sieht die X-700 fragend mit einem Hauch von Skepsis an. So ein Monster hat die Kleine offenbar noch nie gesehen und setzt gleich noch einen drauf: "Wie viele Pixel hat denn Deine Kamera?". Das ist die Frage die mir das Blut in den Schädel drückt. Die Wahrheit sagen, lügen oder wie viel ist gleich noch 'mal 24 mal 36? Ich muss mich schnell entscheiden. "Die hat keine Pixel, die hat noch den guten alten Film drinnen" entgegne ich mit meiner ehrlich Seele und sehe sofort nur noch große Kinderaugen. Keine Haare, kein Gesicht. Nur noch diese großen, fragenden Augen und ich beschließe den Präventivschlag!
"Das ist ein Film mit 36 Aufnahmen, den ich zum Fotolabor zur Entwicklung gebe. Die machen mir dann durch Chemie Farbfotos." lautete meine Antwort. Und so etwas hatte sie bestimmt noch nicht gehört. Ein Kind der digitalen Welt.
War ich jetzt zu ehrlich, kann sie die Wahrheit vertragen? Habe ich ihr Weltbild zerstört und bin gerade von einem Unbekannten zu einem verknöcherten Opa geworden, der verbissen an seinen Traditionen fest hält? Ich fühle förmlich das kleine Mädchen angestrengt denken. Ich kann die elektrischen Impulse ihres Gehirns spüren. Der kleine Kopf funktioniert kreischend an der Leistungsgrenze. Während sie mich weiter mit großen Augen anschaut, kommt mir der Gedanke, dass ich etwas tun muss. Irgend etwas. Ich muss sie retten, sie von ihren Qualen des Nichtverstehens erlösen. Jetzt. Sofort. Doch etwas kommt mir zuvor. Die DigiCam des Vaters hat endlich den Fokus gefunden und er legt los. Eine Aufnahme nach der anderen und das Mädchen schaut hoch zu dem digitalen Dauerfeuer ihres Erzeugers. Er gibt wirklich alles und drückt den Auslöser immer und immer wieder. Es müssen mit Sicherheit dreißig oder vierzig Auslösungen sein. Leise, langweilig und unspektakulär.
Nun, denke ich, dann ist die Kleine wenigstens von mir und meiner Höllenmaschine abgelenkt. Ich wende mich wieder dem Motiv zu und nehme mir viel Zeit zum Einstellen der Schärfe. Dann ist der Augenblick da. Der Seelöwe sitzt auf dem Felsen. Der Tierpfleger wirft einen Fisch in seine Richtung und er reckt den Hals in Richtung der herankommenden Mahlzeit. Und nun kommt mein Auftritt. Das perfekte Motiv. Jetzt tue ich es.
Im Augenwinkel sehe ich, dass die Kleine den Kopf wieder zu mir dreht. Sie sieht, wie ich den Transporthebel an der Kamera spanne und realisiert wohl, dass ich wirklich einen Fotoapparat in der Hand halte und dann geht alles ganz schnell.
Ich betätige den Auslöser. Der Spiegel schlägt mit einem deutlich hörbaren Klack nach oben. Der Verschluss öffnet sich mit sirrendem Geräusch und der Spiegel schlägt wieder runter. Ein irrer Klang. Dann zieht der Motor kreischend den Film weiter. Das ganze dreimal in kurzer Reihenfolge. Die analoge Symphonie einer X-700. Und ich bin glücklich. Eins von den drei Bildern ist es. Eins wird es sein. Das begehrte Motiv. Gut sind natürlich alle drei. Aber eines davon ist mein begehrtes Motiv. Der Seelöwe, der den Fisch schnappt.
Das Mädchen jedoch ist erschrocken zur Seite gesprungen und sucht Schutz im Arm des Vaters. Sie schaut meine schwarze Schönheit furchtsam an und stellt sich bestimmt noch den Rauch vor, der aus der Linse weht - wie aus dem Gewehrlauf eines Vorderladers. Ein Anblick zum Schreien. Das kleine Mädchen mit den blonden Haaren und den braunen Augen, gerade noch neugierig fragend und interessiert sprechend, hatte ehrliche Furcht vor mir und meiner optischen Winchester.
Wortlos wendet sie sich der weiter ziehenden Familie zu. Ich bleibe noch und warte auf ein weiteres Foto. Eins ist bestimmt noch drin. Ich habe Zeit denn ich bin analog. Ich habe alle Zeit der Welt. Und wenn nicht heute, dann beim nächsten mal. Niemand hetzt mich. Ich bin analog. Ich bin Scharfschütze. Die Digitalies gehören zur Infanterie.
Nach einer Weile schaue ich mich noch einmal nach der Familie mit dem Mädchen um und beobachte sie eine Weile. Immer wieder dreht sie den Kopf zu mir oder wahrscheinlich eher zu meiner Minolta. Zwei mal, drei mal, vier mal. Und ihre Gesichtszüge werden mit zunehmender Entfernung immer entspannter. Die Angst weicht. Und dann plötzlich, kurz bevor sie mit der Familie im Aquarium verschwindet, dreht sie sich ein weiteres mal um, lächelt mir und der Minolta zu und winkt kurz mit der Hand. Dann ist sie weg und ich halte einen Moment inne.
War das denn nicht ein nettes Erlebnis? Wäre mir das passiert, wenn ich eins dieser digitalen Schnellfeuergewehre mit Schalldämpfer dabei gehabt hätte? Mit Sicherheit nicht. Eine kleine analoge Anekdote. Für einen Moment die Aufmerksamkeit und das Interesse eines kleinen Kindes, das an diesem Tag wohl noch des öfteren an sein Erlebnis denken wird …
… genauso wie ich. Der Film ist leer und ich nehme ihn aus der Kamera ohne nachzuladen. Denn ich geh' jetzt kleine Kinder erschrecken!