Ich lese gerade das Buch "Sehen und Photographieren - Von der Ästhetik zum Bild" von Marlene Schnelle-Schneyder... wirklich SEHR interessant! Die Autorin räumt recht schnell mit dem immer wieder vorgebrachten Argument, das Auge sei ein unbestechlicher Zeuge der Wahrheit, auf und führt da u.a. wirklich einige sehr gute Gründe an:
1) Der blinde Fleck: An dieser Stelle der Netzhaut tritt der Sehnerv aus. Es befinden sich dort keine Sehnerven, so daß die Retina an der Stelle nichts sieht. Wer kennt eine Kamera/Linse, die an einer Stelle blind ist?
2) Der gelbe Fleck: Die Sehgrube ist der einzige Bereich, in dem scharf abgebildet wird, wir können eigentlich nur mit einem kleinen, begrenzen Bereich scharf sehen. Wer würde schon gern freiwillig so eine lausige Linse verwenden?
3) Die sakkadischen Augenbewegungen: Wenn man sich vorstellt, daß sich unser Kopf und somit unser Auge ständig bewegt, müßte das Ergebnis eigentlich eine Überlagerung von mehreren Bildern aus unterschiedlichen Blickpunkten und somit schlicht ein visuelles Chaos sein. Wer hat schon mal solche "Stereoaufnahmen" unfreiwillig mit seiner Kamera/Linse gemacht?
Und jetzt kommt der eigentliche Knaller! Würde man 1), 2) und 3) zusammennehmen, müßte der Mensch eigentlich nicht in der Lage sein, irgendwie "richtig" zu sehen. Da der Mensch aber de facto sehr wohl recht gut sehen kann, läßt dies nur eine Schlußfolgerung zu: "Das Sehen ist also nicht nur ein optisches Problem - wir sehen nicht, daß wir nicht sehen! Das Auge ist nicht alleinverantwortlich für unser Sehen, sondern ein Bestandteil eines ganzen Wahrnehmungssystems, in dem die Informationen verarbeitet werden."
"Wir 'sehen' ohne Loch ("Blinder Fleck", weil unser Gehirn die Verarbeitung der gesehenen Informationen in komplexer Weise übernimmt. Wir 'sehen' scharf ("Gelber Fleck", "Sakkadische Augenbewegungen", weil unser Gehirn aus unserer Erfahrung und aus unserem Wissen ein 'Bild' aufbaut, das Stabilität und Konstanz vortäuscht. Im weiteren Sinne wird daraus unser Weltbild oder unsere 'Weltanschauung' konstruiert."
Und etwas später wird ein Naturwissenschaftler namens Gibson zitiert: "Die falschen Problemstellungen stammen aus der falschen Analogie zwischen Fotografie und visueller Wahrnehmung, die jedermann für gegeben hielt. Das Fotobild hält aber einen erstarrten Moment innerhalb einer stets wechselnden optischen Anordnung fest. [...] Zu einem latenten Bild auf der Netzhaut besteht hier nicht einmal die leiseste Ähnlichkeit. Ist es schon irreführend genug, das Auge mit einer Kamera zu vergleichen, so ist es noch schlimmer, die Netzhaut einer fotografischen Filmschicht gleichzusetzen."