Was ist ein gutes Bild?
Ein Gewitter braut sich über dem Bryce Canyon zusammen, die letzten Sonnenstrahlen lassen die steinernen Säulenformationen orangerot glühen, darüber spannt sich der schwarzblaue Himmel auf, schwer behangen mit unheilverkündenden Wolken, während unter tiefem Grollen am Horizont schon die ersten Blitze zucken.
"Wenn das meine Eltern sehen könnten. Mensch, die sind hier nie hingekommen – Amerika, Junge das ist ja so weit weg..."
In einer eiskalten Nacht schwebt der gleißende Mond, umspielt von einigen fahl erleuchteten Wolkenfetzen, über den mächtigen Mauern des London Tower und taucht die ganze Szenerie in ein geheimnisvolles Licht.
"Was für ein Anblick, das wäre was für Anni"
Solche faszinierenden Augenblicke möchten wir am liebsten festhalten, und unterschwellig verspüren wir das Bedürfnis, die gerade erlebte Stimmung auch anderen, beispielsweise Verwandten und Freunden, zu vermitteln.
Doch was hat das nun mit der Frage nach einem "guten Bild" zu tun?
Die Überlegung, was ein gutes Bild ist, steht in engem Zusammenhang mit der Frage "Warum fotografieren wir überhaupt?".
Wie die einleitenden Beispiele schon zeigen, stellt die Fotografie ein Mittel der Kommunikation dar. Ein Ziel kann es sein, einen gewonnenen Eindruck festzuhalten und jemand anderem zu übermitteln.
Freilich gibt es nun Spezialgebiete in der Fotografie, wie z.B. die technische Fotografie oder Werbefotografie, bei denen bestimmte gestalterische Aspekte gefragt sind, da aber der überwiegende Teil unserer Leser Freizeitfotografen sein dürften, wollen wir diese Spezialgebiete hier nicht weiter behandeln.
Ein großer Teil der Freizeitfotografen dürfte sich wohl mit der Gelegenheitsfotografie beschäftigen:
Die meisten Bilder werden aus dem – manchmal spontanen - Bedürfnis heraus geboren, einen Eindruck, einen Augenblick, eine Stimmung einzufangen, sie festzuhalten und möglichst häufig reproduzierbar zu machen.
Eine ausgewählte Situation soll nach Bedarf immer wieder aufs neue erlebt werden können - gerade dann, wenn es sich um eine besondere, eine selten oder gar einmalig zu erlebende Situation handelt.
Eine ausgelassene Runde im Freundeskreis, das halten wir im Bild fest.
Eine Hochzeitsfeier? Ein dickes Fotoalbum dokumentiert alle schönen Augenblicke.
Und steht nicht irgendwo noch der Schuhkarton, der mit Bildern der Kinder in jeder beliebigen Stufe ihres Lebens überquillt?
Hier dominiert sicher das Bedürfnis des Festhaltens. Diese Momente sollten am liebsten nie vergehen, am liebsten würden wir die Zeit anhalten, doch das gelingt uns nur mit dem Einfrieren des visuellen Eindrucks. Bei Bedarf können wir uns später mit Hilfe dieses Abbildes wieder an den Zeitpunkt des Geschehens zurückversetzen – das Foto kann unsere Erinnerung immer wieder auffrischen.
Wahrscheinlich steckt dahinter eine dem Menschen innewohnende stille Angst vor der Vergänglichkeit ("American Beauty" gesehen?).
Etwas weiter geht da die gemeine Urlaubs- oder Reisefotografie, sofern sie sich nicht auf das Ablichten meiner selbst unter dem Ortsschild als ein "Ich-war-da-Statement" beschränkt.
Wie bereits eingangs erwähnt, möchten wir andere an unseren Erlebnissen, an unseren erlebten Stimmungen teilhaben lassen.
Hier reicht es nicht mehr, wenn das betrachtete Foto meine eigene Erinnerung auffrischt. Es gilt, die erlebte Stimmung auch einem Betrachter zu vermitteln, der nicht über die Erinnerung an dieses beeindruckende Erlebnis verfügt.
Und genau an dieser Stelle ist die Kreativität des Fotografen gefragt. Hier ist nicht die High-End-Kamera der Schlüssel zum Erfolg, nein, hier geht es um Phantasie, um Ideen, wie die uns so faszinierende Stimmung denn nun ins Bild mit eingebracht werden kann.
Bei der eingangs beschriebenen Szenerie des Gewitters über dem Bryce Canyon kann ich das bedrohliche Donnergrollen oder den aufkommenden Wind nicht direkt aufs Foto bannen. Doch vielleicht gelingt es mir, eine Wolke des vom Wind aufgewirbelten roten Staubes mit einzufangen. Vielleicht habe ich die Möglichkeit, die Kamera aufzulegen oder auf ein Stativ zu setzen und so per "Langzeitbelichtung" ein paar Blitze mit einzufangen, die das herannahende Gewitter symbolisieren. Das ganze wird vielleicht noch eine Idee unterbelichtet oder zumindest der Himmel mit Grau-Verlauf-Filter weiter abgedunkelt. Das sind nur drei von vielen erdenklichen Ideen, die mich meinem Ziel näher bringen, dem Ziel, dem Betrachter die erlebte Stimmung zu vermitteln.
Kann ich die Kälte am London Tower mit aufs Foto bannen? Wohl kaum. Aber stehen irgendwelche gestalterischen Elemente zur Verfügung, die Kälte symbolisieren? Steigt da nicht dicker weißer Rauch aus dem Schlot des Wirtschaftsgebäudes auf? Glitzert da nicht Reif auf der Mauer? Könnte ich nicht eine vorbeigehende Person mit einfangen, deren Atem kondensiert, und die den Mantelkragen hochgeschlagen hat? Oder wäre das dann doch schon zuviel, würde sie eher von der kalten leblosen Szenerie ablenken?
Wir merken, ein stimmungsvolles Bild entsteht nicht mehr durch Scharfstellen und "Klick". Ein stimmungsvolles Foto wird zur Komposition. Die wahrgenommene Szenerie, die erlebte Stimmung, das inspiriert uns zu Ideen.
Nun begegnen wir diesem Zusammenhang immer wieder Regeln und Grundsätzen zum Thema Bildgestaltung.
Vom eigenen Perfektionismus oder von einer dem potentiellen Betrachter unterstellten Erwartungshaltung getrieben, glauben wir oft, das Bild müsse zumindest im Hauptmotiv absolut scharf sein, das Kontrastspektrum des Films soll möglichst perfekt ausgenutzt sein, ach, und bitte keine Vignettierungen!
Warum sonst deckt man sich mit einer hochwertigen Ausrüstung ein?
Schiefe Linien, abgeschnittene Füße, ein nicht nach System beschnittener Hintergrund; bitte nicht!
Wieso eigentlich?
Sicher, in all dem, was unsere Augen gerne sehen, lassen sich gewisse Regelmäßigkeiten erkennen. Ein Bild nach diesen Regeln zu gestalten, kann dem Fotografen zumindest ein wenig helfen, ein Bild zu gestalten, das "nett" anzusehen ist.
Doch es wäre ein fataler Fehlschluß anzunehmen, daß alles, was uns gefällt, zwangsläufig diesen Regeln entsprechen muß, und daß das, was von diesen Regeln abweicht, zwangsläufig minderwertig, unangenehm oder sonst wie negativ sein muß.
Wichtig ist, in gestalterischer Hinsicht das zu erreichen, was man sich vorgenommen hat!
Ist es also in meinem Bild von entscheidender Bedeutung, daß das Hauptobjekt scharf abgebildet wird, dann ist natürlich alles daranzusetzen, hier Schärfe zu erreichen.
Möchte ich beim Aufnehmen eines schroffen Küstenstreifens herausstellen, wie die Felsformation mit zunehmender Entfernung immer blasser wird und letztlich mit Dunst und Gischt zu verschmelzen scheint, dann muß es mir gelingen, die Belichtung so zu wählen, daß ein möglichst feines Kontrastspektrum erreicht wird. Doch wäre in dieser Aufnahmesituation ein leicht sichtbares Korn von Nachteil? Nein, im Gegenteil!
Die Stimmung ist es, die es einzufangen gilt. Und dazu muß die Aufnahme nicht in jedem technischen Gesichtspunkt perfekt sein.
Es ist sicher sehr lehrreich, sich beispielsweise mit den Werken eines David Carson auseinanderzusetzen. Ihm gelingt es, Stimmungen einzufangen. Bei seinen Aufnahmen von Menschen glaubt man geradezu, einen momentan vorherrschenden Geist zu spüren.
Zitat: "...eine blöde Idee, daß ein Bild scharf sein muß".
Fotos vermitteln Stimmungen, sie dokumentieren Geschichte, sie können uns um Jahrzehnte in eine andere Zeit, in eine andere Gesellschaft oder Kultur versetzen.
Das Bild "Am Bahnhof" von Alfred Stieglitz ist eines jener Bilder, die ich mir stundenlang fasziniert ansehen könnte. Es versetzt einen um über 100 Jahre zurück.
Vor dem Bahnhof dominiert ein Pferdebahngespann. Man glaubt, das Atmen und Schnauben der Zugtiere der Pferdebahn regelrecht hören zu können, von ihren schwitzenden Rücken steigt kondensierende Feuchtigkeit in die eisige Luft auf, während sie auf die Abfahrt ihres Wagens warten.
Einige Männer mit Melonen in langen Mänteln, mit hochgeschlagenen Kragen - der winterlichen Kälte trotzend streben sie ihrer Wege.
Der verdreckte Schnee ist von den Schienen der Pferdebahn zur Seite geschippt worden und wartet dort auf sein unausweichliches vermatschen.
Eine triste und zugleich fesselnde Stimmung, die in mir den Wunsch wachruft, mich ins nächste Kaffee zu begeben, um mich dort aufzuwärmen.
Bildschärfe? Na ja!
Kontrast? Brutal hart – kaum Nuancierungen, die Pferde sind nur schwarze geisterhafte Bezwinger der Kälte.
Senkrechte Linien parallel zur Bildkante? Nein!
Und dennoch, das ändert nichts an der Faszination, die dieses Bild auslöst. Der technische Aspekt spielt hier eine untergeordnete Rolle, ja die gewisse Rauhigkeit und Körnigkeit der Aufnahme unterstreicht die Stimmung sogar.
Was macht nun also ein gutes Bild aus? Läßt es sich nun einfach schematisch nach technischen Gesichtspunkten bewerten?
Wie wir gesehen haben, wohl kaum. Und eine nach simplen schematischen Kriterien durchgeführte Bewertung ist wohl eher schlecht! (Von rein sachlicher Fotografie einmal abgesehen.)
Es ist erforderlich, sich mit dem Bild auseinanderzusetzen, ich muß mich also fragen, wie das Bild auf mich selbst wirkt, welche Stimmung es bei mir auslöst. Daraus wird schon klar, daß eine gewisse Subjektivität in der Bewertung unvermeidbar ist.
Natürlich sollte eine mit dem Bild angestrebte Intention auch erreicht worden sein. Wenn die Idee eines Fotografen vielleicht ansatzweise erkennbar ist, die Umsetzung aber nur sehr undeutlich oder uneindeutig ist, dann gibt es in gestalterischer Hinsicht wohl noch etwas zu verbessern.
Ja, und wenn die technische Komponente der Umsetzung dann auch noch gut gelungen ist, dann setzt es der ganzen Sache natürlich noch die Krone auf.
Zwar ist der technische Aspekt nicht alles, wie wir am Beispiel des Stieglitz-Bildes gesehen haben, doch darf er andererseits nicht zum Verhängnis der Komposition werden, sprich, das Bild darf nicht durch erhebliche technische Patzer verdorben werden.
Wie hoch letztlich die Toleranz ist, hängt, wie gesagt, mit von der Bildidee ab.
Doch bei allen noch so guten Ideen zur Bildgestaltung noch ein Wort zur Vorsicht:
Lassen wir uns nicht dazu hinreißen, uns zu sehr auf die Fotografie zu konzentrieren.
Vergessen wir über das Fotografieren nicht, die reale Stimmung einfach zu genießen.
Manchmal mag man geneigt sein, jeden schönen Augenblick per Kamera einzusammeln, um ihn immer wieder "abrufen" zu können. Doch all das ist immer nur eine Brücke für unsere Erinnerung.
Wir sollten es nicht versäumen, die Kamera einfach auch mal aus der Hand zu legen und das Mark des schönen Augenblicks in uns aufzusaugen.
© by Mick