ZITAt (Peanuts @ 2008-09-20, 16:37) Rechnet man mit Geschwindigkeiten, braucht man irgendwann eine Absolutposition um die Anfangsbedingung festzulegen. Die Kamera kann aber die Position nicht messen, sondern nur die Winkelgeschwindigkeiten. Die Kamera kennt auch die Nullposition nicht genau, weil das Gezitter zufallsartig ist.
Dann stelle dir bitte Folgendes vor: Angenommen sei eine harmonische Schwingung (diese Annahme ist an sich schon unzulässig, aber der Einfachheit halber mach ich das mal). Die Kamera befindet sich zum Zeitpunkt t0 (Auslösemoment) im Nulldurchgang, dh. bewegt sich mit maximaler Geschwindigkeit.
Der Sensor befindet sich auf der Position 0 mit Geschwindigkeit 0. Irgendwann, zwischen t0 und t0+x wird der Sensor auf die aktuelle Geschwindigkeit beschleunigt. Das dauert eine gewisse Zeit, aber man sieht sofort, dass die Position des Sensors der der Kamera hinterher hinkt. Wenn der Sensor die Geschwindigkeit erreicht hat (nur darauf kommt es für eine scharfe Abbildung an), ist die Kamera schon viel weiter, weil sie den Nulldurchgang mit maximaler Geschwindigkeit passiert hat.
Wenn du den Geschwindigkeitsverlauf von Sensor und Kamera zur Positionsermittlung im Aufnahmezeitpunkt aufintegrierst, stellst du fest, dass unterschiedliche Positionen herauskommen (aka Versatz zwischen Sucher und Sensor), einfach weil die Anfangsbedingungen zur Zeit t0 nicht die gleichen sind.[/quote]
Dein Modell ist zwar nachvollziehbar, aber Du triffst darin ein paar Annahmen, die ich für unzulässig halte und die zu voreiligen Schlußfolgerungen führen.
Deine Argumentation ist, daß der Sensor eine träge Masse besitzt, die zunächst mal beschleunigt werden muß (Annahme: Zitterbewegung im Geschwindigkeitsmaximum, Kamerasensor in Ruhe in Bezug auf das Kameragehäuse), und daß sich, ist der Sensor "endlich" auf der Sollgeschwindigkeit, die Geschwindigkeit und möglicherweise auch die Richtung der Zitterbewegung längst schon wieder geändert haben, die Bewegung des Sensors also immer hinterherhinkt und damit die Relativbewegung Bild zu Sensor nicht zu Null kompensiert werden kann.
Nun, das trifft - von einer Ausnahme abgesehen - allerdings genauso auf eine Stabilisierung im Objektiv zu: Auch die Linsen im Objektiv haben träge Massen, die beschleunigt werden müssen. Klassischerweise würde auch dieses System immer etwas hinterherlaufen. Die Ausnahme besteht darin, daß die Korrekturlinse während des ersten Schwingungszuges der Aufnahmeperiode bereits beschleunigt ist, da die Stabilisierung ja ständig arbeitet, und nicht erst während der Aufnahme zu arbeiten beginnt.
Beim gehäuseintegrierten System wäre das nur dann realisierbar, wenn man von der fotografisch sinnvollen Voraussetzung absehen würde, daß das Sucherbild exakt die Mitte (wenn nicht sowieso 100 Prozent) des Aufnahmebildes anzeigt - das ließe sich erst mit LiveView und elektronischen Suchern lösen, sofern man im Sucher selbst keine optische Stabilisierung unterbringen will.
Während des ersten Schwingungszuges hat ein ständig arbeitendes objektivseitiges System also einen gewissen Vorteil, der allerdings mit dem Nachteil erkauft wird, daß das System sich möglicherweise bereits in einem ausgelenkten Zustand "am Anschlag" befindet und - anders als der gehäuseintegrierte Bildstabilisator, der sich zu diesem Zeitpunkt der Auslösung immer exakt in der Mitte befindet - u.U. gar nicht mehr weiter in alle Richtungen ausgelenkt werden kann. Je nach Art der Kamerabewegung kann das objektivseitige System also diesen Vorteil unter Umständen gar nicht ausspielen. Oder anders gesagt: Es gibt auch (besonders starke oder aperiodische) Ruckelbewegungen, die ein System, das erst im Moment der Aufnahme zu arbeiten anfängt, eher besser kompensieren kann. Was wir auch sagen können: Je länger die Verschlußzeit in Bezug auf die Periodendauer der Schwingungsfrequenz, desto weniger fällt eine möglicherweise nicht hundertprozentige Kompensation während der ersten Halbschwingung ins Gewicht, desto geringer fällt also der vermeindtliche Vorteil des objektivseitigen System aus, ja, desto vorteilhafter wird sogar ein System, das zum Zeitpunkt des Aufnahmestarts noch maximalen Verstellweg in alle Richtungen hat. Bezüglich der Schwingungsfrequenz der Zitterbewegung kann man sich überlegen, daß der Nachteil des Sensorstabilisators bei niedrigeren Frequenzen zunehmend weniger relevant wird, da der Sensor (genauso wie die Linse) hier genügend schnell beschleunigt werden kann. Zum Tragen kann das also in erster Linie bei relativ schnellen oder starken Schwingungen in Verbindung mit relativ kurzen Verschlußzeiten kommen. Je kürzer aber die Verschlußzeit, desto weniger wichtig wird jedoch auch eine Stabilisierung.
Die Kompensationsbewegung des Sensors beginnt zwar erst im Moment der Aufnahme, aber die Bewegungssensoren arbeiten natürlich schon vorher und kontinuierlich weiter, können also - genauso wie beim objektivseitigen System - regelmäßige Schwingungsanteile erkennen und die Sollbewegung des Sensors entsprechend vorausberechnen.
Der oben genannte Nachteil ist ja nur dann in der Praxis relevant, wenn der Sensor in dem Moment, wo der Verschluß aufgeht, noch nicht die richtige Geschwindigkeit erreicht hat. In der Praxis gibt es aber eine gewisse Verzögerung zwischen dem Druck auf den Auslöser und dem Aufgehen des erstens Verschlußvorhangs. Während dieser Zeit klappt der Spiegel hoch und die Blende geht zu. Schafft es der Piezoantrieb, den Sensor in dieser Zeitspanne auf Geschwindigkeit zu bringen und an die Position zu fahren, an die sich das vormals im Sucher sichtbare Bild (gerade) bewegt (haben wird), wobei die Position nicht einfach nur nachgeführt wird, sondern ziemlich genau vorausberechnet werden kann, entfällt der potentielle Nachteil des gehäusebasierten Systems während der ersten Halbschwingung komplett. Dabei muß der Sensor während dieser Zeitspanne nicht notwendigerweise der exakten Bahn des Zitterbildes folgen. Dies wird erst nötig, wenn der Verschluß aufgeht.
Das Ganze hängt von vielen Faktoren ab: Der Masse der Sensors, der möglichen Kraft und Geschwindigkeit des Piezoantriebs, der Latenzzeit zwischen dem Moment des Auslösens und dem Aufgehen des ersten Verschlußvorhangs und nicht zuletzt von der Natur der Zitterbewegung selbst. Um festzustellen, wo hier die Optima der verschiedenen Kurven liegen, wie stark die Einflußfaktoren jeweils sind und ob und wenn wie sie sich möglicherweise kritisch überlagern oder gerade durch "glückliche Fügung" kompensieren, müßte man die Modelle mal mit konkreten Zahlen unterfüttern, die uns leider weder für das eine noch für das andere System vorliegen. So lassen sich zwar theoretisch prinzipielle Vor- und Nachteile der verschiedenen Ansätze herausarbeiten, es läßt sich damit aber nicht nachweisen, ob eines der Systeme jetzt für den Anwendungsfall "System zur Stabilisierung fotografischer Freihandaufnahmen mit Spiegelreflexkameras" wirklich besser oder schlechter geeignet ist. Aber selbst wenn wir das könnten, würde mit großer Wahrscheinlichkeit eine Kurvenschar herauskommen, bei der jedes System in bestimmten Teilbereichen leicht im Vorteil ist, in anderen dafür leicht im Nachteil. Zumindest in der Praxis zeigt sich ja, daß sich die Systeme nicht viel geben. Deine Schlußfolgerung, das gehäuseintegrierte System sei prinzipiell und generell unterlegen, ist jedenfalls nicht stichhaltig. Ich denke, die Praxis ist der beste Beweis dafür...
Viele Grüße,
Matthias
PS. Ausblick: Den oben skizzierten Vorteil des nicht-kontinuierlich arbeitenden Systems bei längeren Verschlußzeiten kann ein kontinuierlich arbeitendes System hingegen systembedingt nicht ausgleichen, allerdings könnte man (wie das meines Wissens bei einigen Implementierungen, wenn auch nicht bei Canon, gemacht wird) einen Modus einführen, in dem auch das objektivbasierte System erst im Moment der Aufnahme zu arbeiten beginnt, wodurch dann allerdings auch hier die gleichen Probleme auftreten würden, wie beim gehäuseintegrierten System.
Genauso könnte man auch das gehäuseintegrierte System mit einem Modus ausstatten, bei dem entweder ein übergroßer Sensor ständig "blind" mitbewegt wird, also auch bei einer zu Null angenommenen Auslöseverzögerung nicht mehr beschleunigt werden müßte. Der Auslösemoment würde dann auf diesem übergroßen Sensor nur den (Vollbild-)Bildausschnitt festlegen, der festgehalten werden soll. Oder, bei normalgroßem Sensor, wäre eine solche Betriebsart in Verbindung mit einem leichten Crop implementierbar. Eine solche Betriebsart hätte die gleichen Probleme mit dem Endanschlag wie die objektivbasierte Lösung.
Bei relativ hohen Schwingungsfrequenzen mit dementsprechend kurzen Perioden kann man sich z.B. eine Implementierung vorstellen, bei der das Aufgehen des ersten Verschlußvorhangs innerhalb eines gewissen kurzen Fangbereichs auf einen Nulldurchgang der Geschwindigkeit synchronisiert wird. Der Sensor müßte dafür natürlich vorher in eine der Extrempositionen der vorausberechneten Schwingung gefahren werden.