Richtiges Schärfen ist eine Wissenschaft für sich. Wer wie Daniel ein und dasselbe Vorgehen "in 90 % aller Fälle" anwendet, hat sich seine Bilder wohl noch nie genauer angesehen. Will man mit einem einzigen Schärfungs-Durchgang auskommen, so wäre es völlig falsch, diesen nach der Rohdatenkonvertierung als erstes durchzuführen. Im Gegenteil, den macht man ganz zum Schluß, wenn das Ausgabemedium feststeht. Das heißt, man arbeitet mit der ungeschärften "Master"-Datei, macht seine Tonwertkorrekturen und dergleichen, und zum Schluß legt man davon mehrere Kopien an: eine für den Monitor, eine für die Ausbelichtung, eine für den Tintenstrahldruck, eine für den Offsetdruck usw. Jede der Kopien wird dann passend zum Ausgabemedium skaliert und dann geschärft; die Master-Datei bleibt ungeschärft und wird archiviert. Die geschärften Kopien muß man nicht archivieren; das würde auf die Dauer viel zuviel Speicherplatz fressen. Skalierung und Schärfung sind ja, von der Master-Datei ausgehend, bei Bedarf schnell wiederholt.
Man kann das aber auch noch wesentlich raffinierter machen. Bruce Fraser empfiehlt in seinem Buch "Real-World Image Sharpening with Adobe Photoshop CS2" (Peachpit Press) eine drei- bis vierstufige Schärfung. Wer gelernt hat, daß mehrfaches Schärfen strikt zu vermeiden sei, dem mag dies wie Blasphemie erscheinen ... doch der Autor hat sich wirklich etwas dabei gedacht. Und es funktioniert. Sehr gut sogar!
Die vier Stufen heißen:Schärfung nach Quelle (sharpening for source)Schärfung nach Bildinhalt (sharpening for content)Kreatives Schärfen (creative sharpening)Schärfung für Ausgabe (sharpening for output)Jede Schärfung wird auf eigenen Ebenen duchgeführt, niemals in der Bilddatei direkt. Man kann das geschärfte Bild mit all seinen Ebenen archivieren oder, wenn man nach dem dritten Schärfungsdurchgang mit dem Ergebnis zufrieden ist, zum Schluß die Ebenen vereinen, um eine kleinere Master-Datei zur Archivierung zu erhalten. Der letzte Durchgang, Schärfung für Ausgabe, wird in der Regel natürlich nicht archiviert. Alle Schärfungsschritte lassen sich gut automatisieren, um rasch hunderte von Bildern zu verarbeiten.
Schärfung nach Quelle dient lediglich dazu, die durch die Digitalisierung hervorgerufenenen Unschärfen zu kompensieren. Sie erfolgt mit mittleren bis hohen Beträgen (150 - 500 %) und kleinen bis mittleren Radien (0,3 - 1 Pixel), je nach Bildquelle. Je mehr Megapixel, desto kleiner der Radius. Je stärker das Anti-Aliasing-Filter der Digitalkamera, desto höher der Betrag. Liegt Bildrauschen vor, so kann es sinnvoll sein, vor der Schärfung eine der Stärke und dem Charakter des Rauschens angepaßte Rauschreduktion durchzuführen, evtl. mit Hilfe einer Flächenmaske, die die Kanten schützt. Besonders gescannte Bilder bedürfen oftmals einer Rauschreduktion. Größere Tonwertkorrekturen, falls erforderlich, sollten vorher durchgeführt werden, weil sie unter anderem auch die visuelle Schärfe beinflussen können. Wichtig ist, daß dieser erste Schärfungsdurchgang erstens auf auf die Luminanz und zweitens auf die Mitteltöne beschränkt bleibt -- dies erreicht man ganz einfach z. B. durch passende Ebeneneigenschaften der Schärfungsebene. Wer will, könnte dasselbe auch mit passenden Luminanzmasken realisieren, oder mit einer Runde durch den Lab-Farbmodus (aber nicht bei 8-bit-Dateien!.
Für die Schärfung nach Bildinhalt müssen die Bilder in zwei bis drei Gruppen kategorisiert werden: niederfrequente, ggf. mittelfrequente sowie hochfrequente Bilder. Und zwar sind die Ortsfrequenzen der Bilddetails gemeint. Niederfrequente Bilder haben viele Flächen und wenige Kanten; bei hochfrequenten ist's umgekehrt. Dieser Durchgang erfolgt prinzipiell durch eine Ebenenmaske, welche die Kanten freigibt und die Flächen schützt. Man wählt mittlere Beträge und den Radius anhängig vom Bildinhalt -- d. h. von der Frequenzklasse. Durch die Ebenenmaske kann man relativ heftig schärfen und erhält dennoch subtile (und nachträglich anpaßbare) Ergebnisse.
Kreatives Schärfen ist optional und naturgemäß nicht automatisierbar. Hier geht es darum, die Schärfung einzelner Bilddetails lokal zu verstärken oder abzuschwächen, je nach Bildabsicht. Ein typische Anwendung wäre zum Beispiel das gezielte Nachschärfen der Augen und evtl. des Haars und ggf. das Unterdrücken von Hautunreinheiten in einer Portraitaufnahme. Man kann auch den Eindruck von Tiefenschärfe verringern, das Bokeh verbessern und, in Grenzen, sogar die Tiefenschärfe vergrößern ... ganz nach Bedarf. Natürlich kann man all dies auch lassen -- wie gesagt, das ist optional.
Schärfung für Ausgabe ist nun wieder ein rein mechanistischer Prozeß, der unabhängig vom Bildinhalt und streng abhängig vom Ausgabemedium und seinen Parametern vorgegeben und somit hervorragend automatisierbar ist. Eine gute Faustregel besagt, man solle in dieser Phase Schärfungs-Halos erzeugen, die nach der Ausgabe etwa 1/100 Zoll breit sind -- auch die von Robert "Raymond" oben angegebene Faustregel zielt in diese Richtung. Man dividert also den dpi-Wert der Ausgabe-Daten durch 100 und erhält die Breite der anzustrebenden Halos in Pixel. Auf diese Weise sieht eine für den Druck bei 300 dpi geschärfte Datei am Monitor natürlich zum Fürchten aus -- doch das ist schon richtig so, auf dem Papier sieht's dann gut aus. Beachte aber, daß der USM-Parameter "Radius" und die Breite der resultierenden Halos nur lose miteinander korreliert sind.
Frasers Buch beschreibt die Grundlagen der digitalen Bildschärfung sehr ausführlich und geht auf jede der oben skizzierten Schärfungsphasen im Detail ein. Das Buch enthält jede Menge Photoshop-Aktionen, mit denen sich die Phasen automatisieren lassen. Diese Aktionen lassen sich im Prinzip natürlich auch auf andere gute Bildbearbeitungsprogramme übertragen, sofern sie über Ebenen und Ebenenmasken verfügen. Ich kann dieses Buch jedem, der mit Digitalbildern hantiert, nur allerwärmstens empfehlen ... es hat nur einen Nachteil: es ist (bisher) nur in englischer Sprache verfügbar.
-- Olaf